Die Kunst des Zuhörens
– Es ist nur ein kurzes Gespräch, nach einem Vortrag. Gerade antworte ich auf ihre Frage. Sie streicht sich das Haar aus der Stirn, knetet meine Terminliste in den Händen – und blickt knapp an mir vorbei. Ich drehe mich um. Passiert da was in meinem Rücken? Bei den nächsten Sätzen registriere ich, wie ihr Blick wieder und wieder abschweift, wie meine Worte an ihren Ohren abprallen und dahinter im Stimmengewirr zerfasern. Sie hört nicht zu. Es gibt keine Resonanz.
Bin ich banal?
In mir geht kurz eine Denklawine los: Ist es banal, was ich gerade erzähle? Langweilig? Für die junge Frau mir gegenüber offensichtlich nicht wichtig genug. Was denkt sie über mich? Was interessiert sie in Wirklichkeit, jenseits ihrer Frage? Warum hat sie mich denn angesprochen? Und noch weiter im Hintergrund, nur halbbewusst, keimt ein Zweifel: Kann ich meine Gedanken überhaupt teilen, mein Gegenüber damit erreichen? Bleibe ich allein, zurückgeworfen auf mich selbst, obwohl ich rede?
Zuhören ist kein Stillhalten
Für die politische Philosophin Hannah Arendt sind Sagen und Hören die Grundlage der Realität von Erfahrungen: „Eine Erfahrung kommt erst dann zum Vorschein, wenn sie gesagt wird.“ Im Gesagtwerden ist das Gehörtwerden enthalten. So betrachtet ist das Zuhören nie eine passive Handlung, wie sie uns auf den ersten Blick vorkommen mag. Zuhören ist kein Stillhalten, bis das Gegenüber fertig ist, bevor wir endlich unsere eigenen Gedanken ausbreiten können. Vielmehr ist das Zuhören ein aktiver Prozess, der dazu beiträgt, etwas Neues zu schafen.
Zuhören als Sich-Bereitstellen
Der Sozialpsychologe Erich Fromm (“Die Kunst des Liebens”, “Haben oder Sein”) schreibt : “Zuhören ist eine Kunst wie das Verstehen von Poesie.” Zuhören hat für ihn wie jede andere Kunst ihre Regeln, die er aus seiner Arbeit als Psychoanalytiker ableitet. Man braucht: volle Konzentration, Fehlen von Angst, frei arbeitende Phantasie, die Fähigkeit zur Empathie, eine grundlegende Liebesfähigkeit und die Fähigkeit zum echten Verstehen. Zuhören ist dann kein Austausch von Informationen mehr, auch kein Schritt hin zu Urteil und Beurteilung, sondern ein Sich-Bereitstellen. Ein offenes Hier-Sein, frei von Erwartungen oder Ungeduld. Wir sind bereit zu erhalten, was das Gegenüber gibt.
Wenn echter Dialog gelingt
Ich finde in diesem Zusammenhang den „Dialog“-Ansatz faszinierend. Er geht zurück auf Platon und David Bohm, einen Kollegen von Albert Einstein. Weltweit zeigt er erstaunliche Erfolge: Verfeindete Gruppen sitzen friedlich an einem Tisch. Schwerstverbrecher erzählen aus ihrer Kindheit. Und bei der Versöhnungsarbeit beginnen Opfer, ihren Tätern zu vergeben.
Mit der Frau aus dem Publikum haben wir beide all das verpasst. Ihr Blick springt weiter von einem vorbeispazierenden Mann hinüber zur Saaltür und zum Büchertisch. Nach ein paar weiteren Sätzen werde ich wortkarg, das Gespräch erstirbt, wir gehen unserer Wege – und sind allein geblieben. Nach einem Moment düsteren Einsamkeitsgefühls brandet plötzlich eine Vorfreude in mir auf. Es stehen ruhige Tage mit unserer unübersichtlichen Familie, mit geliebten Freunden, mit Spaziergängen im vertieften Gespräch bevor. Umso bewusster werde ich, gerade ziemlich hungrig, diese gestalten. Ich werde zuhören. Die andere Person wird zuhören. Ich freue mich vor.
Wie kann echter Dialog gelingen?
Es gibt einige entscheidende Bedingungen:
Die Kunst des Zuhörens: Kein Diskutieren, kein Argumentieren. Stattdessen: Teilen von inneren Wahrheiten: „Wie denke, fühle, erinnere ich?“ Wer gerade zuhört, lässt das Gehörte in innerem Schweigen auf sich wirken.
Weiterdenken
... beim Ansehen:
Zuhören ohne Worte: Vollkommen unerwartet sitzt ihr ehemaliger Lebenspartner vor ihr: Video der Künstlerin Marina Abramovic im Museum of Modern Art in New York, während ihrer Installation des aktiven Präsent-Seins.
... beim Lesen:
Thich Nhat Hanh, Vordenker in Sachen Achtsamkeit, hat in seinem Buch „achtsam sprechen – achtsam zuhören: Die Kunst der bewussten Kommunikation“ (O.W. Barth, 2014) den Stellenwert des achtsamen Zuhörens für ein reicheres Zusammenleben herausgearbeitet.
Bild: © Ulrike Scheuermann